Freitag, der erste Dezember 2023 im Rathaus von Puiseaux, Zimmer 10.
Es gibt drei Sitzungen vor der Aufführung von „Es war einmal in Puiseaux“, drei Proben an drei Freitagen, bevor am Samstag dem 16.12. die Innenstadt gesperrt und sich unsere Vorhänge erheben werden. Es ist fast 18 Uhr und noch wissen wir nicht, welche Rollen uns zugedacht wurden.
Es geht zu wie in einem Taubenschlag, obwohl das Treffen offiziell begonnen hat. Die Leute trudeln ein und begrüßen sich herzlich, schließlich hat man sich ein Jahr nicht gesehen. Gleichzeitig versucht Stephanie uns das Motto des Jahres und die einzelnen Szenen zu erklären. Dass weiterhin ihre Kollegen vom Theater eintrudeln und sie ständig von vorne beginnen muss, scheint sie nicht zu stören. Sie weiß, wenn die Leute erstmals für die Stücke aufgeteilt sind, wird sich das Chaos von selbst ordnen. Ein buntes Völkchen diese Schauspieler. Die Dame, mit der ich einst die belgische Nationalhymne sang, ist jetzt ein Mann. Bei keinem der professionellen Schauspieler passt alles an der Kleidung zusammen. Irgendein Detail sticht immer heraus. Kurzum: Ich mag diese Schauspieler und die Menschen, die in jedem Jahr wieder mitmachen. Rechts neben mir sitzt der ehemalige Bürgermeister von Puiseaux Michel, der mich mit einem High Five begrüßte. Links von mir sitzt Yannick, mit dessen Frau ich im letzten Jahr einen Kosaken verkörperte, die jetzt aber vor einer Operation steht und am Tag des Auftritts im Krankenhaus sein wird. Yannik hat mich mit einer Umarmung begrüßt. Kurz werden uns die Rollen und die Lokation genannt und ab gehts in die erste Probe. Die aufwendigste Vorstellung soll vor dem Rathaus aufgeführt werden. Es geht um einen Lendit, das französische Gegenstück zu den deutschen Bundesjugendspielen, allerdings gespickt mit französisch-patriotischem Brimborium, weswegen das alljährliche Ereignis bereits in den Achtzigern langsam abgeschafft wurde. Doch die Älteren erinnern sich gerne an den Lendit. Auch waren in den Siebzigern Intervilles-Spiele in Frankreich sehr populär, bei denen Gemeinden in ausgefallenen Disziplinen gegeneinander antraten und im Fernsehen die Spiele ohne Grenzen hervorgingen. Henry IV, der öfter durch Puiseaux durchkam, ließ sich in Fontainebleau einen Tennisplatz einrichten. Grund genug, auch ihm ein Sketch zu widmen.
Mein Stück soll in der Kirche aufgeführt werden. Obwohl es das siebte Mal ist, dass ich an diesem Event teilnehme, habe ich in der Kirche selbst noch nie gespielt. Alle anderen meiner Gruppe schon, und das alte Gemäuer genießt einen schlechten Ruf bei den Schauspielern. Zu kalt und ein heftiger Durchzug, der durch das Mittelschiff des Gotteshauses pfeift, um uns im Querhaus, wo wir hauptsächlich spielen werden, zu quälen. Zusammen mit Saskia, die unsere Proben leiten wird, sind wir zu siebt. 2 Teenager von dreizehn Jahren, die ich erst für älter halte, zwei Damen in den Vierzigern, der Stadtoptiker und ich. Saskia hält uns eine Formular unter die Nase, damit wir aus versicherungstechnischen Gründen Mitglieder des Theatervereins werden, und erklärt uns schemenhaft die Szene. Raymond Poulidor, ein erfolgreicher Radrennfahrer, der allerdings nie die Tour de France gewann und den Ruf als sympathischen Zweiten trug, war im Jahre 2010 zu Besuch in Puiseaux im Rahmen einer Fahrradbörse. Poulidor, gespielt von Daniel dem Optiker, der dem inzwischen verstorbenen Original tatsächlich ähnlich sieht, kommt an, verteilt Autogramme und geht wieder. So kurz, so simpel.
Raymond Poulidor 2010 In Puiseaux | Unser "Poupou" |
In der darauffolgenden Woche legt Saskia Kostüme in der Kirche bereit. Da unser kurzes Stück fast in der Gegenwart spielt, ist die Kostümierung nicht aufwendig. Die Szene wird es dennoch, denn der Direktor des Theaters wird in den beiden folgenden Proben die meiste Zeit mit uns verbringen. Da die Zuschauer uns von drei Seiten beobachten können und wir ihm möglichst nicht die Sicht versperren oder den Rücken zuwenden sollen, entpuppt sich unser Schauspiel komplizierter als gedacht. Ich bekomme den Part des Organisatoren, der Poulidor in Empfang nimmt, die Fans organisiert, ein Interview gibt und Raymond am Ende wieder verabschiedet. Inzwischen wäre mir ein kurzer Text fast lieber, denn die kurze Szene ist ziemlich umfangreich geworden, sodass ich bei den Proben sogar ins Schwitzen komme.
Der Tag der Aufführung gestaltet sich wie bei den letzten Malen: Sich schminken lassen, letzte Aufbauarbeiten in der Szene und viel Reden mit den Leuten, um die aufgeregten Gemüter abzukühlen. Leticia, eine der weiteren Laiendarstellerinnen aus meiner Gruppe, hatte gestern noch mit mir geschimpft. Ich hatte ihr die Tür mit den Worten „Ladys first“ aufgehalten und sie fand das Rollenbild zu altbacken. Diese Reaktion kannte ich bislang nur aus Deutschland. Jetzt ist Leticia es, die mich schminkt, hat Kuchen und Glühwein für uns in ihrer Tasche. Eine linkische Bemerkung über hinfällige Rollenbilder spare ich mir. Leticia hat Psychologie studiert und weiß, was sie sagt, und ihr der Glühwein könnte noch nützlich werden.
Es ist kurz vor der Aufführung. Obwohl die Innenstadt für die Zuschauer noch gesperrt ist, befinden sich bereits Gäste in der Kirche und beobachten uns. Unangenehme Minuten. Kurz vor dem offiziellen Beginn um 17:30 Uhr schickt Saskia den Danny auf die erste Tour.
Wir haben Glück: Es ist zwar kühl, aber nebelig, was den Lichtinstallationen draußen zu Gute kommt, aber somit auch windstill. Es herrscht daher kein nasskalter Durchzug in der Kirche und die 300 Kerzen in den Gläsern, die um uns aufgestellt wurden, bringen die Temperatur auf einen erträglichen Level.
Ich bewege mich auf den Tisch zu, rücke Bücher, einen Stift und ein Schreibblock zurecht, als die Fahrradklingel von Poulidor ertönt und das Signal für die erste Runde gibt. Saskia fängt an zu stressen, wo der Ehrengast bleibt. Auch ich ziehe genervt über die Bühne und rede mit Leticia. Das wird der Moment sein, in dem ich am Laufe des Abends am Glühwein nippe. Da ich sehr selten trinke, wird mein Spiel mit steigendem Alkoholspiegel im Laufe des Abends ausdrucksstärker werden. Poulidor ist inzwischen fast angekommen und ich öffne eine imaginäre Tür, begrüße ihn überschwänglich, stelle sein Fahrrad in eine Bankreihe und leite ihn an seinen Tisch. Während er die vorbereitete Installation begutachtet, besorge ich dem Gast ein Kissen, schlage es aus, lege es auf den Stuhl und helfe dem reifen Herren sich hinzusetzen. Nachdem ich Poulidur massiert, mit meinem alten Klapphandy zu einem Selfie genötigt und feste auf die Schulter geschlagen habe, rufe ich den ersten Fan, gespielt von Leticia, herbei. Nun kommt die Saskia auf mich zu und interviewt mich. Ohne Worte berichte ich von seiner Anfahrt und seinen sportlichen Leistungen mit der Betonung auf „Zweiter“.
Währenddessen fällt mir auf, dass Sandrine Poulidor zu lange mit Sonderwünschen belästigt. Ich weise sie phantomimisch zurecht und winke unsere Jungschauspieler herbei. Da sie sich dem Ehrengast für eine Signatur in einem Buch namentlich vorstellen, mache ich mir den Spaß und flüstere ihnen jedesmal andere deutsche Vornamen zu und freue mich diebisch über ihre Aussprache. Nun organisiere ich drei Gruppenfotos, jeweils in die Richtung, wo die Zuschauer stehen, bedanke mich erneut bei unserem Ehrengast, begleite ihn nach draußen, während die anderen Schauspiele mit ihren Büchern sich vor Freude im Kreise drehen. Räume das Kissen wieder weg, stapel die Bücher übereinander und räume den Tisch wieder auf, bis die Fahrradglocke läutet und alles von vorne beginnt. An diesem Abend etwa dreißig mal, bis die Kirchglocken das Ende einläuten.
Wir spielen weiter, bis das Orchester in die Kirche kommt, um uns abzuholen, wie sie es zuvor mit den anderen Schauspielern gemacht haben. Gemeinsam ziehen wir auf den Platz vor der Kirche und begehen die Abschlussfeier.
Angetrunken werde ich an jenem Abend gefragt, ob ich nächstes Jahr wieder dabei bin, und in dem Wissen, dass ich in der nächsten Woche erkältet sein werde, bleibt meine Antwort vage. Doch wenn ich im kommenden November eine E-Mail vom Theater erhalte, werde ich bestimmt wieder zusagen. Kultur und Geschichte sind Dinge, die uns als Gesellschaft definieren, und ich finde es schön und bereichernd, an diesem Abend unsere Werte zu feiern und über den Tellerrand hinauszuschauen.
Dies ist die Fortsetzung zu dem Text: Das Theater vor den Spielen.
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Die Bilder habe ich mit freundlicher Genehmigung von dem THÉÂTRE DES MINUITS auf die Seite gestellt.