Es ist ein Donnerstag, der 11. Juli 2022. Ein Tag vor der offiziellen Eröffnung des Olympischen Dorfes.

Zum ersten Mal wurden wir, die NOC-Assistenten, nach Saint-Denis eingeladen, um uns für unsere anstehenden Wochen zu unterweisen. Da ich meine Volonteers-Uniform bislang nicht ausprobierte, ist das Tragen derselben auch eine Premiere für mich. Fest hatte ich mir vorgenommen, mich in den Wochen zuvor einer strengen Diät und einem umfangreichen Sportprogramm zu unterwerfen, doch das Ableben meines Vaters machte dem einen Strich durch die Rechnung.

Trotzdem passe ich in den Sportanzug rein, ohne mich zwängen zu müssen. Schön finde ich ihn auch jetzt noch nicht, und in dem Zug nach Paris fühle ich mich auch ein wenig unwohl. Die Olympischen Spiele werden in Paris mit gemischten Gefühlen aufgenommen und ich fürchte, zu viel Aufmerksamkeit oder gar Beschimpfungen ausgesetzt zu sein. Sie bleiben aber unbegründet, denn sowohl im Zug als auch in der Metro werde ich weitestgehend ignoriert und gehe in den Menschenmassen unter. Ärger bereitet mir nur mein Ticket, da die Schranke der Metro sich mir partout nicht öffnen will. Gestresst laufe ich durch die Halle vom Gare de Lyon und werde von A nach B geschickt, bis sich endlich jemand erbarmt und ein kostenloses Ticket ausdruckt, welches mir den Einlass ermöglicht. In der Metro spreche ich eine Dame an, die auch eine Uniform wie ich trägt. Eine Französin namens Beatrix aus Guadaloupe. Sie erzählt mir, dass sie für Marokko eingeteilt sei, und ich bin etwas verwirrt, denn mir ist meine Nation, für die ich beschäftigt sein soll, nicht bekannt. Anhand meiner Nummer und einer Tabelle, die sie Tags zuvor, wie fast alle anderen NOC-Assistenten, erhielt, ermittelt sie mein Team. Bahamas. Ich nicke freundlich und gehe davon aus, dass sie sich vertan haben muss, da Bahamas zu abwegig klingt. In Saint-Denis-Pleyel steigen wir aus und finden uns in einer riesigen, aber menschenleeren Metrostation wieder. Eine weitere Dame schließt sich uns an, sie heißt Sabrina und kommt aus Turin. Gemeinsam folgen wir Beatrix, die sich auch nicht auskennt, aber Google Maps bereits angeworfen hat und uns zum Eingang des Dorfes navigiert. Wir werden wie am Flughafen durchsucht, was aber reibungslos vonstatten geht, und gehen gemeinsam zum Cité du Cinéma. Diesmal können wir uns nicht verlaufen, denn an jeder Ecke steht eine Person, die uns die Richtung weist. Vor dem Haupteingang der Cité du Cinéma, deren Eingang mit den Flaggen der teilnehmenden Nationen geschmückt ist, dürfen wir ein Foto machen. Es ist einer der seltenen Momente, in denen uns dies gestattet sein wird.

Nachdem jedem eine Swatch-Uhr und eine Coca-Cola-Wasserflasche ausgehändigt wurden, versammeln wir uns in einem großen Kinosaal, der fast komplett besetzt ist. Wir, die NOC-Assistenten, stellen die größte Gruppe unter den Ehrenamtlichen dar: fast 900 Personen. Etwas über dreihundert davon sitzen nun mit mir zusammen, die Restlichen haben Tags zuvor und am Morgen dieselbe Schulung besucht. Es wird offeriert, ein Bild von uns mit der Olympischen Fackel zu machen. Ich hasse Bilder von mir und verzichte dankend.

Auf der Leinwand laufen Bilder der Abschlusszeremonie von den Olympischen Spielen in Tokyo. Es sind eher traurige Aufnahmen, da die Spiele und die Zeremonien coronabedingt vor leeren Zuschauerrängen abgehalten werden mussten. Es folgen ein paar Trailer und ich frage mich, warum ich mich so beeilt habe, rechtzeitig da zu sein. Meine deutschen Gene zwingen mich weiterhin zum Pünktlichsein und bestrafen mich damit, länger warten zu müssen, weil ich immer einer der Ersten bin. Zum Glück sitzt Sabrina neben mir, und auf der anderen Seite mache ich die Bekanntschaft mit Jonathan aus Dublin, mit dem ich ein interessantes Gespräch über die Wiedervereinigung von Nord-Südirland und den Brexit führe. Das ist für mich ein wertvoller Moment, aus erster Hand die Sichtweise eines Betroffenen zu erfahren.

Endlich geht es los. Die Leiter des NCS (National Committee Services) betreten die Bühne und versuchen, uns mit Sprüchen wie „Ihr seid die Creme de la Creme“ und „Seid laut, wenn ihr euch auf die Mission freut“ zusätzlich zu motivieren, was nur bedingt gelingt. Ich mache für meine Verhältnisse wenig laute Geräusche und erhebe mich nur müde, wenn dies gefordert wird. Wäre ich nicht motiviert, wäre ich nicht hier. Es folgen Informationen über das Dorf, gefolgt von langen Einweisungen in die Verhaltensregeln. Wir werden darauf hingewiesen, dass wir unsere Arbeitszeiten nicht überschreiten dürfen, auch wenn die Chefs der nationalen Komitees dies von uns verlangen. Es fallen Worte über das Tragen der Uniform, was Pflicht ist, dass wir keine Geschenke annehmen dürfen usw. Welche Aufgaben wir am Ende zu erledigen haben, wissen auch die Verantwortlichen nicht. Das kommt eben auf die Leiter der Komitees an und ergibt sich zumeist spontan. Es bleibt abzuwarten und somit spannend.

Aufgeteilt in Gruppen von 30 Personen folgt ein Rundgang durch das Olympische Dorf. Wir bekommen die für uns relevanten Orte präsentiert, während gleichzeitig die ehrenamtlichen Fahrer der Navettes, elektrische Shuttles, die Golfplatzfahrzeugen ähneln, durch das Dorf kurven und den Umgang mit dem Gefährt üben. Wir bekommen das Büro des National Committee Services gezeigt, die wichtigsten Plätze und Einkaufsmöglichkeiten, die dorfeigene Poststation und, wie man uns sagt, der Ort, an dem der Alkohol ins Dorf geschmuggelt wird. Wir bekommen die Orte gezeigt, an denen sich die Athleten in ihrer Freizeit aufhalten können, die Halle zum Trainieren und die Kantinen, in denen auch wir, strikt getrennt von den Athleten, einmal am Tag verköstigt werden. Die Gerichte sollen fast ausschließlich regional und größtenteils vegan sein.

Wir beenden unsere Runde an dem Gebäude, an dem wir uns täglich zum Rapport melden sollen. Ich nutze die Gelegenheit und signalisiere, dass ich, wie einige andere auch, die Mail vom Vortag nicht erhielt. Zudem bestätigt man mir, dass ich für die Bahamas vorgesehen bin. Inzwischen habe ich mich mit dem Gedanken angefreundet und freue mich auf die Bekanntschaft mit den Athleten und Ihrem Missionsleiter. Die Athleten von den Bahamas sind sicherlich nicht weniger professionell als ihre deutschen Kollegen. Es sind definitiv weniger, 18 statt 400, und da wird das Athletenhüten entspannter. Also, ab auf die Bahamas!

Beim Verlassen des Dorfes sind wir angehalten, uns eine neue Akkreditierungskarte ausstellen zu lassen. Begründet wird uns das nicht wirklich, aber ich vermute, dass zu viele dieser Karten mit lesbaren Barcodes in sozialen Netzwerken aufgetaucht sind. Schließlich ermöglichen diese Karten den Zutritt zu allen Sportstätten, dem Dorf, dem Broadcast- und Pressezentrum. Und auch ich muss gestehen, meine Karte anfangs auf dieser Seite veröffentlicht zu haben, wenn auch mit geweißtem Barcode.

Heute habe ich mir eine Anstecknadel der Bahamas bestellt. 3 Euro, die ich investiert habe und die als Eisbrecher fungieren sollen. Ja, ich freue mich auf das Team der Bahamas und ich freue mich auf den 20.7., wenn mein Abenteuer Olympische Spiele endlich losgeht.

 

Bücher

  • Das Türkenhaus

    Deutschland im Herbst 1988. Der siebzehnjährige Christian leidet unter hypnopompen Halluzinationen. Seit dem Tod seiner ersten großen Liebe weicht ihm seine Fantasiefreundin Anna aus Kindheitstagen nicht mehr von der Seite. Sein behandelnder Psychologe erwägt, Christian aufgrund selbstverletzendem Verhaltens in eine psychiatrische Klinik zu überstellen.

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  • Lord ohne Filter

    Bei einem Spaziergang mit seinem Hund lernt der dreizehnjährige Oliver die gleichaltrige Ines kennen. Oliver bietet Ines eine Zigarette an, die er seiner Mutter zuvor stibitzte. Da er den leichten Zigaretten die Filter abbricht, wird das Rauchen von Lord ohne Filter zu Ines und Olivers Spezifikum. Doch es gelingt Ines und Oliver in den folgenden Jahren nicht, ein Paar zu werden.

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  • Die Lopare

    Über 250 Jahre ist es her, dass die Raumschiffe der Internationalen Raumflotte der Erde nach dem großen Krieg den Schritt wagten und in die Weiten des Weltalls aufbrachen, da sie im Sonnensystem keine Perspektive für sich sahen. Nachdem die Erde und ihre Kolonien im Sonnensystem sich von den Folgen des Konfliktes erhohlten und über überschüssige Ressourcen verfügen, bricht eine wissenschaftliche Flotte auf, um die nahen Sternensysteme zu erkunden.

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