Samstag, den 14. September 2024.  Gegen 10 Uhr stehe ich vor meiner Sporttasche der Volontaire und krame nach meiner Uniform. Alles ist gewaschen und gut verstaut und ich hatte eigentlich nicht geplant, die Klamotten so schnell wieder hervorzuholen. Abgesehen der Hosen, die bestens als Wanderhosen geeignet sein werden.


Vor zwei Tagen stand meine Frau begeistert und händeklatschend hinter mir. Die Volontaire könnten an einer Verlosung teilnehmen, um an einer Parade für die Athleten in Paris teilzunehmen. 
Ich prüfte meine E-Mails und stellte fest, dass auch ich eine entsprechende E-Mail bekommen habe.

Meine Bilder von Paris 2024

Wie sich herausstellt, hat das französische Fernsehen 4 Millionen Euro in die Hand genommen, um dieses Event aus dem Boden zu stampfen. Zu groß war die Welle der Begeisterung der Pariser und der Franzosen während der Olympischen Spiele insgesamt, so dass einige Verantwortliche den Schwung mitnehmen wollten. Die Übertragung beginnt um 16 Uhr und dauert bis Mitternacht. Es soll mit der Parade beginnen, einer Zeremonie des Präsidenten in der Medaillen an die Medailleträger verliehen werden, der Kranzniederlegung am Grab des unbekannten Soldaten am Arc de Triomphe und abschließend einem Livekonzert.

Marie und ich nehmen an der Ziehung Teil, doch nur ich gewinne die Teilnahme. Das wird langsam zum Running-Gag, denn eigentlich würde ich gerne darauf verzichten, besonders da ich nun alleine los muss. Der Barcode ist nicht übertragbar und Marie würde mir nie verzeihen, sollte ich dem Tamtam fernbleiben. Also zwänge ich mich in den Sportanzug rein und schlüpfe in die Turnschuhe, die nach einer Runde in der Waschmaschine wieder wie neu aussehen.
Der Treffpunkt ist am Kreisverkehr der Av. des Champs-Élysées über der Metrostation Franklin D. Roosevelt, die natürlich aus Sicherheitsgründen geschlossen ist und mich zu einer Schnitzeljagd durch Paris zwingt. Über die Rue Washington betrete ich die Champs-Élysées, nachdem ich von der Polizei kontrolliert wurde, und stehe alleine auf der Prachtstraße, die von mobilen Absperrzäunen gesäumt ist. Nur von weiten sind Polizisten oder Soldaten zu sehen. Eine Gruppe dieser Soldaten stellt sich als Gebirgsjäger heraus. Ich spreche Sie an, weil ich die Kopfbedeckung lustig finde. Ich verlasse den abgesperrten Bereich wieder, um erneut am vorgesehenen Eingang Einlass zu finden. Entrée E10 gegenüber 17/19 Avenue des Champs-Élysées.

Wer in Frankreich pünktlich kommt, wartet am längsten. Eine halbe Stunde stehe ich mit einigen Hundert Grün- und Blauhemden vor dem Eingang. Eine Gruppe Polizisten durchquert die wartende Horde aus Ehrenamtlichen und bezahlten Mitarbeitern der Spiele. Sie werden rhytmisch beklatscht und mit „Polizei, Polizei“ angefeuert. Die jungen Leute in Uniform wissen, auf die Situation zu reagieren und wie sie die Aufmerksamkeit für sich interpretieren sollen. Meine Erfahrungen als Volontaire mit der Polizei waren durchweg positiv, und ich gehe davon aus, dass die freundliche Reaktion nicht ironisch gemeint ist. 
Wir werden eingelassen und in die verschiedenen Wartegatter geleitet. Ganz vorne stehen die Volontaire, danach das bezahlte Team in Blau. Dahinter eine Gruppe von Fans und am Schluss die Hauptakteure: die französischen Athleten. Wieder heißt es Warten. Ich stehe in einer Gruppe von 450 Volontairen und wir sollen die 45.000 freiwilligen Helfer repräsentieren.

 

Meine Bilder von Paris 2024

Nachdem die Sponsoren mit Werbewagen die Ehrenrampe umrundet haben und die Olympische Phryge einmal auf und ab gelaufen sind, werden wir endlich aus dem Gatter gelassen und flanieren den Champs-Élysées seitlich der Ehrenrampe hoch. 
Obwohl ich bis hierhin unlustig in der Gruppe stand, kann ich mir ein Lächeln nun nicht verkneifen. Die Zuschauerreihen hinter den Barrieren sind gefüllt mit gutgelauntem Publikum, das uns zujubelt und selbst mich zum zurückjubeln zwingt. Leiber bin ich, entgegen meiner Hoffnung, niemandem begegnet, den ich kannte. Marie schickt mir in dem Moment eine Nachricht, weil das Fernsehen meine Freude einfängt und sie mich in der Menschenmasse entdeckt hat.

Kurz vor Ende der Rampe stellen wir uns an derselben auf und warten auf die Athleten. Als erstes passiert uns eine Gruppe von ausgesuchten Fans, welche viel Krach machen und dabei ordentlich Stimmung verbreiten. Erst jetzt betreten die Athleten die Rampe. Ein Volontaire im Rollstuhl steht an meiner Seite und nervt mich ein wenig, weil er die ganze Zeit im Gedränge gegen mein Schienbein fährt und ich nicht weg kann. Doch er stellt sich als Glücksfall heraus, denn es ist genau dieser Rollstuhlfahrer, der die Athleten der Paralympics anlockt, um mit ihm Selfies zu machen. Dadurch kommt die gesamte Kolonne bei uns zu stehen und es entwickeln sich nette Gespräche zwischen den Athleten und den Volontairen. Das kam im Dorf kaum vor, weil wir die Hauptprotagonisten der Spiele möglichst in Ruhe lassen sollten. Ein Mann mit Goldmedaillie um den Hals rutscht aus seinem Rollstuhl hinaus und platziert sich neben unserem Mann im Rollstuhl für ein Selfie, während andere Athlethinnen Crowdsurfing betreiben und über den Köpfen der Volontaire hinweg unter dem Jubeln des Publikums eine Runde drehen. Ein tolles Symbol für diese Spiele.

Die Athleten haben die Rampe abgelaufen und nun dürfen auch wir in einen abgesperrten Bereich vor dem Arc de Triumph, wo von einer Bühne aus zunächst Thomas Bach und danach der Präsident Emmanuel Macron eine Rede halten.
Von der Zeremonie selbst bekommen wir nichts mit, und da es von nun an noch drei Stunden sind, bis das Konzert anfangen soll, beschließe ich, die Heimfahrt anzutreten. Es ist kühl geworden und leider habe ich immer noch niemanden getroffen, mit dem ich einen netten Abend verbringen könnte. Bis ich zuhause sein werde, wird es 22:30 Uhr sein.

Meine Bilder von Paris 2024

Und dennoch: Frankreich hat das Maximale aus den Spielen rausgeholt. Die Stimmung in Paris während der Spiele war großartig und die Investitionen dürften sich gelohnt haben. Auch wurden in aller Eile Bauvorhaben wie die Linie 14 oder etliche Kläranlagen und das Olympische Dorf, das Wohnraum für Studenten bieten soll, aus dem Boden gestampft, dessen Realisierung sonst noch Jahrzehnte in Anspruch genommen hätte. Schade, dass Deutschland nicht mehr in der Lage zu sein scheint, ein solches Großereignis zu sich zu holen. 
In diesem Sinne: Paris 24, Case closed.

 

 

Bücher

  • Das Türkenhaus

    Deutschland im Herbst 1988. Der siebzehnjährige Christian leidet unter hypnopompen Halluzinationen. Seit dem Tod seiner ersten großen Liebe weicht ihm seine Fantasiefreundin Anna aus Kindheitstagen nicht mehr von der Seite. Sein behandelnder Psychologe erwägt, Christian aufgrund selbstverletzendem Verhaltens in eine psychiatrische Klinik zu überstellen.

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  • Lord ohne Filter

    Bei einem Spaziergang mit seinem Hund lernt der dreizehnjährige Oliver die gleichaltrige Ines kennen. Oliver bietet Ines eine Zigarette an, die er seiner Mutter zuvor stibitzte. Da er den leichten Zigaretten die Filter abbricht, wird das Rauchen von Lord ohne Filter zu Ines und Olivers Spezifikum. Doch es gelingt Ines und Oliver in den folgenden Jahren nicht, ein Paar zu werden.

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  • Die Lopare

    Über 250 Jahre ist es her, dass die Raumschiffe der Internationalen Raumflotte der Erde nach dem großen Krieg den Schritt wagten und in die Weiten des Weltalls aufbrachen, da sie im Sonnensystem keine Perspektive für sich sahen. Nachdem die Erde und ihre Kolonien im Sonnensystem sich von den Folgen des Konfliktes erhohlten und über überschüssige Ressourcen verfügen, bricht eine wissenschaftliche Flotte auf, um die nahen Sternensysteme zu erkunden.

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