Mit einem rosafarbenen Blatt eines Notizblocks in der Hand, auf dem J1 gekritzelt steht, steige ich die Stufen im Cité du Cinéma hinab. Hier fand vor Wochen unsere erste Schulung statt, und hier haben sich die Chefs der Delegationen an mehreren Morgen vor und während der Olympischen Spiele getroffen. Bereits am Vortag war ich hier zu einem Briefing geladen. Es war der letzte Samstag der Spiele und es galt die Abschlussfeier vorzubereiten.

Noch während meines Ruhetages am Dienstag revoltierte mein Körper. Stress, Sonne und fast 25 Kilometer Fußweg täglich forderten ihren Tribut. Den Mittwoch und den Donnerstag verbrachte ich fast ausschließlich im Bett. Selbst am Samstag schleppte ich mich in das Olympische Dorf und musste fast erbrechen, noch bevor ich in der Kantine festes Essen zu mir nahm. Daher machte ich mich nach der zweistündigen Einweisung aus dem Staub, um am Sonntag mehr Kraft zu haben.

Es ist 14:30 Uhr. Der Platz J1 befindet sich ganz unten auf der rechten Seite. Auf meinem Sitz befinden sich ein Schild mit der deutschen Fahne, ein bedrucktes Blatt Papier und eine Tüte mit Fächern. Ich habe eigentlich fest mit den Bahamas gerechnet, bin aber nicht unglücklich darüber, dass sie es nicht sind.

Unsere Aufgabe wird es sein, die Teams zu den Bussen zu begleiten. Eine Mamutaufgabe, wenn man bedenkt, dass eine Kleinstadt in wenigen Stunden in das Stade de France gebracht werden muss. Dementsprechend sind die Zeiten genau getaktet und lassen sich auf dem bedruckten Blatt ablesen. Ort und Zeit der Versammlung, der Abmarsch und die Abfahrt sind minutengenau vorgegeben. Wir sollen nur darauf achten, dass die Fahnenträger, im Team Deutschland die Triathlethin Laura Lindemann und der Kanute Max Rendschmidt, anwesend sind.

Nachdem alles gesagt ist, weist uns die Organisation darauf hin, dass wir bis zum Beginn unseres Einsatzes in dem Saal zu bleiben haben. Unmut macht sich breit, denn für einige würde das 3 Stunden in dem überklimatisierten Raum auszuharren bedeuten. Es regt sich erstmals lauter Widerstand, als plötzlich eine Gruppe Sicherheitsleute den Raum betritt und den Saal evakuiert. Ich interpretiere das zunächst als Zugeständnis, entpuppt sich allerdings später als Gasleck, das uns die Freiheit schenkt.

Vor dem Saal kommt mir Emilie, meine Lieblingsbelgierin, entgegen und gemeinsam holen wir uns ein Eis. Sie berichtet von den letzten Tagen mit den Bahamas. Nein, ich habe wirklich nichts verpasst. Auch sie ist in ihre Landesdelegation eingeteilt. Dass ich nicht bei den Bahamas bin, ist daher keine Strafaktion gewesen.

Pünktlich um 16:25 Uhr finde ich mich vor dem Deutschen Haus an der Seine ein. Viele der Athleten stehen bereits vor der Tür auf dem Bürgersteig und wir beginnen, die Fächer zu verteilen. Insgesamt sollen 600 Deutsche in das Stadion gebracht werden und jeder von uns soll sich um etwa 50 Teilnehmer kümmern. Da ich mich in der Sportwelt nicht auskenne, biete ich die Fächer jungen Leuten an, die mir nichts sagen. Lediglich Giulia Gwinn meine ich in der Menschenmasse zu erkennen, bin mir aber auch da nicht sicher. Die deutsche Truppe soll von einem Franzosen mit starkem Akzent angeführt werden. Er nimmt seine Arbeit sehr ernst und verbringt die Zeit damit, Selfies zu erstellen. Eigentlich verboten, denn das Dorf gilt als Save-Space für die Athleten. Der Abmarsch um 16:41 erfolgt eher unkoordiniert und so reihe ich mich als zweiter Schildträger in die Reihe ein. Neben mir geht Deniz Almas, mit dem ich ein paar Worte wechsle, aber ansonsten gehe ich anonym unter. Ich bin unter jungen Leuten und fühle mich etwas fehl am Platz. Der französische Führer der Gruppe hat auf einen Gepäckwagen einen Bluetooth Lautsprecher gestellt und schiebt diesen vor sich her. Das Team D ist somit die einzige Gruppe, die ich sehen werde, die mit Musikuntermahlung durch das Dorf läuft. Schon nach wenigen Hundert Metern ist Schluss und wir warten unter einem Zeltdach des Check-ins in der Busstation. Es sind 38 Grad vorhergesagt gewesen, und ständen wir nicht im Schatten bei einem ständigen wehenden Lüftchen, wäre die Wartezeit wohl unerträglich. Eine reifere Dame fragt mich, wann es denn wohl weitergehen würde, und ich krame mein Blatt hervor. Dabei erkenne ich Horst Hrubesch, der zwei Meter neben mir steht und an einem Röntgengerät für die Gepäckkontrolle lehnt. Jetzt wird mir erst bewusst, wo ich mich eigentlich befinde. Er scheint mein überraschtes Gesicht zu sehen, lächelt kurz und dreht sich weg.

Vorne läuft ein Medley der Gruppe Pur mit deren größten Hits der 90er. Aufgepeppt mit Tanzbeats. Der französische DJ war wohl doch nicht so bewandert in deutscher Kultur und nach einiger Zeit beginnen einige Zwangszuhörer zu revoltieren. Jetzt läuft Helikopter 117 gefolgt von Sweet Caroline.

Die Gruppe vor mir setzt sich in Bewegung und ich rücke nach vorne vor. Erst jetzt fällt mir auf, dass die anderen Schildträger nicht mehr da sind, was mich etwas verwirrt. Als ich grünes Licht zum Losgehen bekomme, folgt mir das restliche deutsche Team. Auf dem Weg über den großen Parkplatz werde ich vom Personal in die Richtung Reihe C gewiesen. Eine junge Dame kommt mir entgegen und ich spreche sie auf Französisch an. Sie macht mich darauf aufmerksam, dass sie kein Französisch spricht, und fragt mich, woher ich kommen würde, und quittiert meine Antwort mit einem „Great“. Auf meine Gegenfrage antwortet sie fast entschuldigend mit Türkei, worauf ich mit einem „Super“ reagiere. Sie lächelt und wird mir in der nächsten Viertelstunde nicht von der Seite weichen. Die für mich wertvollste Begegnung des Tages. Alle anderen Schildträger sind verschwunden, doch zum Glück erweisen sich die deutschen Athlethen als diszipliniert und verteilen sich fast selbstständig auf die den deutschen zugewiesenen Busse. Auf die Minute pünktlich schließen sich die Türen und die Busse fahren ab. Einmal tief durchatmen und raus aus der sengenden Hitze. Nur noch das Schild zurück ins NOC-Center-Büro bringen. Die Abschlusszeremonie werde ich bei meinen Freunden am Fernseher verfolgen und bin eigentlich dankbar dafür, da sich die Inszenierung als zäh erweisen wird.

Somit enden die Olympischen Spiele für mich und jetzt heißt es wieder zu genesen und Kraft für die Paralympics zu tanken.

 

Bücher

  • Das Türkenhaus

    Deutschland im Herbst 1988. Der siebzehnjährige Christian leidet unter hypnopompen Halluzinationen. Seit dem Tod seiner ersten großen Liebe weicht ihm seine Fantasiefreundin Anna aus Kindheitstagen nicht mehr von der Seite. Sein behandelnder Psychologe erwägt, Christian aufgrund selbstverletzendem Verhaltens in eine psychiatrische Klinik zu überstellen.

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  • Lord ohne Filter

    Bei einem Spaziergang mit seinem Hund lernt der dreizehnjährige Oliver die gleichaltrige Ines kennen. Oliver bietet Ines eine Zigarette an, die er seiner Mutter zuvor stibitzte. Da er den leichten Zigaretten die Filter abbricht, wird das Rauchen von Lord ohne Filter zu Ines und Olivers Spezifikum. Doch es gelingt Ines und Oliver in den folgenden Jahren nicht, ein Paar zu werden.

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  • Die Lopare

    Über 250 Jahre ist es her, dass die Raumschiffe der Internationalen Raumflotte der Erde nach dem großen Krieg den Schritt wagten und in die Weiten des Weltalls aufbrachen, da sie im Sonnensystem keine Perspektive für sich sahen. Nachdem die Erde und ihre Kolonien im Sonnensystem sich von den Folgen des Konfliktes erhohlten und über überschüssige Ressourcen verfügen, bricht eine wissenschaftliche Flotte auf, um die nahen Sternensysteme zu erkunden.

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