Auch wenn der erste Schock überstanden ist und ich einige Stunden darüber geschlafen habe und beginne, mich mit der neuen Realität abzufinden. Das Wahlergebnis zu analysieren macht für mich keinen Sinn. Hier haben auf demokratischen Wegen Bürger gegen ihr eigenes Interesse eine neue Regierung gewählt, und seiner Mitbewerberin bleibt nichts anderes übrig, als ihre Niederlage einzuräumen und im Januar die Macht abzugeben.
Dass sie es getan hat, das alleine macht Harris zu einer würdigeren Kandidatin als Trump.
Viele Amerikanerinnen und Amerikaner hatten einen Grund, dem ehemaligen und kommenden Präsidenten die Stimme zu verweigern. Frauen, Muslime, Puerto Ricaner und People of Color: All diese Menschen nimmt Trump nicht als vollwertige Bürger wahr und hat dies auch unverblümt kundgegeben. Am Ende dürfte nur ein Wahlversprechen den orangenen Tölpel wieder ins Weiße Haus gebracht haben. Mehr Geld für die Bevölkerung. Kamala Harris dürfte zum Verhängnis geworden sein, dass sie eine Frau und nicht weiß genug ist. Das mag überspitzt klingen, dürfte aber bei vielen Wählern den Wahlentscheid gebracht haben.
Was nun für die Amerikaner folgen könnte, lässt sich erahnen, wenn man im Projekt 2025 herumstöbert.
• Kürzung des Überstundenschutzes für 4,3 Millionen Arbeitnehmer.
• Die Bemühungen, eine Senkung der Preise für verschreibungspflichtige Medikamente zu stoppen.
• Beschränkung des Zugangs zur Nahrungsmittelhilfe, auf die durchschnittlich mehr als 40 Millionen Menschen in 21,6 Millionen Haushalten monatlich angewiesen sind.
• Abschaffung des Frühförderungsprogramms „Head Start“, das jährlich über 1 Million Kinder betreut.
• Kürzung der Programme des American Rescue Plan (ARP), die 220.000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert haben.
• Einschränkung des Zugangs zur medikamentösen Abtreibung.
• Mehr der 33 Millionen Medicare-Versicherten zu Medicare Advantage und anderen schlechteren, privaten Optionen zu drängen.
• Studenten in 25 Bundesstaaten und Washington, D. C. den Zugang zu Studiendarlehen zu verweigern, weil ihr Staat undokumentierten Einwanderern Studiengebühren gewährt.
• Den Schutz der Bürgerrechte an mehreren Fronten zurückschrauben, einschließlich der Kürzung von Programmen zur Förderung von Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion (DEI) sowie von LGBTQ+-Rechten im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und am Arbeitsplatz.
Das sind Punkte, die eigentlich nur die Leute in den USA betreffen. Mitleid empfinden brauchen wir nicht, denn der Inhalt des Projektes war lange bekannt.
Das gesamte Projekt kann hier durchgelesen werden: https://www.documentcloud.org/documents/24088042-project-2025s-mandate-for-leadership-the-conservative-promise
Die Homepage zum Projekt 2025: www.project2025.org
Gegenprojekt von Democracy Forward: https://democracyforward.org/
Die Zukunft Trumps sieht wieder rosig aus. Er wird die nächsten Jahre vornehmlich auf dem Golfplatz verbringen und seine Arbeit von Speichelleckern erledigen lassen. Die Fäden werden wieder Leute wie Steve Bannon ziehen, der gerade frisch aus dem Knast entlassen wurde. Und diese Leute hinter dem Projekt sind es, die uns Angst machen sollten, weil wir sie erstens noch nicht kennen und weil es sich zweitens um handverlesene Extremisten und religiöse Eiferer handelt, die auch die Außenpolitik der USA mitbestimmen werden. Hier wird es, angesichts der weltpolitischen Lage, gefährlich.
Der zweitgrößte CO2-Verursacher der Welt wird erneut aus dem Pariser Abkommen austreten und Gesetze zum Naturschutz lockern. Was das Fracking anbelangt, lasst sie nur machen. Es ist vornehmlich die lokale Bevölkerung, welche unter dieser Umweltbelastung leiden wird, aber dieser Politik ihre Stimme gab. Beim Klimaabkommen wird die ganze Welt darunter leiden, aber auch hier haben wir Europäer uns nicht mit Ruhm bekleckert. Und dennoch: Der technische Fortschritt schreitet hier voran und erneuere Energien sind inzwischen günstiger als Kohle und Atomkraft. Der Ausbau schreitet schneller voran, als Experten dies bis vor Kurzem für möglich hielten. Hier scheint der Markt zu regeln, was die Politik nicht vollbrachte. Sollten die USA nur auf alte Energiekonzepte setzen, wird es ihrer eigenen Wettbewerbsfähigkeit schaden.
Sorgen macht mir für Europa nur die Sicherheitspolitik. Und da kann Trump sogar bei mir punkten, denn anstatt selbst für unsere Sicherheit zu sorgen, haben wir uns seit Ende des Kalten Krieges unter dem Sicherheitsschirm der Amerikaner bequem gemacht, um gleichzeitig den heutigen Gegner Russland zu hofieren und zu finanzieren. Beides war unklug und wurde von den Amerikanern lange kritisiert.
Tatsächlich fühlte ich mich im Februar 2022 ähnlich wie heute, als die Russen offiziell die Ukraine überfielen. Die Reaktion einiger Länder in der EU, vor allem Finnland, Schweden und Tschechien, aber auch die Widerstandskraft der Ukraine, hat mir wieder Mut gegeben. Putin ist im Augenblick keine Gefahr für uns, denn wer nicht in der Lage ist, das ärmste Land Europas zu erobern, kann es kaum gegen ein anderes Land aufnehmen. Russland hat einen Großteil seiner Reserven bereits verballert und beklagt neben 700 000 gefallenen Soldaten auch den Verlust von Fachkräften, welche ihrem Heimatland den Rücken kehrten. Russland ist zu einem zahnlosen Bären verkommen.
Andererseits haben Länder wie Polen, aber auch Deutschland und Frankreich ihre Investitionen erhöht. So investierten Deutschland und Frankreich 2023 zusammen 128,1 Milliarden Euro, während Russland nur auf 109 Milliarden kam. Wie viel Geld bei den Russen in dunkle Korruptionskanäle fließt, kann dabei nicht gesagt werden.
Putin ist derzeit keine Bedrohung für uns, und damit das langfristig so bleibt, sollten wir uns weiter von den USA emanzipieren. Wenn die EU etwa jeden tausendsten Bürger in eine europäische Armee stecken würde, könnte diese aus 500 000 Soldaten bestehen. Deutschland müsste derzeit 85 000 Mann bereitstellen und andererseits die Bundeswehr gesundschrumpfen. Nicht die Masse an Personal, sondern die Ausstattung und Logistik sind in einem modernen Krieg ausschlaggebend. Das führt uns der Ukrainekonflikt täglich vor Augen.
Ja, wir könnten das schaffen und nebenbei sogar die Ukraine befreien, ohne Hilfe der Amerikaner. Es ist eine Frage des politischen Willens. Und ohne Lindner gelingt uns dies vielleicht sogar noch besser.
Zur Sicherheitspolitik zähle ich auch das konsequente Einhalten der europäischen Datenschutzverordnung. Der Praxis, uns Produkte zu verkaufen, welche das Ausspionieren von EU-Bürgern und deren Behörden ermöglichen, sollte endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Unsere Daten sollten nur mit unserem Wissen ins außereuropäische Ausland gelangen können. Facebook, X, Google, Amazon und Co. gehören verbannt und sollten durch europäische Angebote ersetzt werden. Warum nicht längst ein gesetzeskonformes Betriebssystem die Behörden und Haushalte dominiert, ist mir schon lange ein Rätsel. Am Ende wundern wir uns immer, wenn ausländische Geheimdienste uns vor einer Terrorgefahr warnen. Ernsthaft? Wir sollten uns wieder daran gewöhnen, unser Land und unsere Werte selbst zu schützen, uns auf Europa zu konzentrieren und unsere Datenhoheit endlich wieder erlangen. Nein, das würde Trump nicht gefallen, wäre aber eine konsequente Reaktion auf seine Politik.
Zudem sollten wir die Gunst der Stunde nutzen und Fachkräfte aus den USA in ein weltoffenes Europa locken. Da drüben sind Großteile der Eliten derzeit mindestens genau so frustriert wie wir. Refugees Welcome!
Nein, die Situation könnte besser sein, aber sie ist bei Weitem nicht aussichtslos. Europa kann sich wehren und seit 2022 wissen wir, dass es dies auch tut und zusammensteht, wenn es notwendig wird.